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Ausbreitung von Covid-19 Jeder Tag zählt

Bisher haben sich in Deutschland nachweislich 1500 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Ob und wie schnell die Zahl in die Zehntausende steigt, hängt von den Schutzmaßnahmen ab - und von jedem Einzelnen.
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Sven Hoppe/ dpa

Wer ein großer Optimist ist - oder in seiner eigenen Welt verharrt wie der Kabarettist Dieter Nuhr , der "einfach auftreten will am Wochenende" -, mag sich aktuell wundern: Angesichts von "nur" rund 1500 Coronavirus-Infektionen in Deutschland werden Großveranstaltungen abgesagt und der Vizechef des Robert Koch-Instituts (RKI) sagt, man müsse "Abstand zwischen die Menschen bringen"?

Wer weniger optimistisch ist, dem mag bereits die Entwicklung seit Monatsanfang große Sorge bereiten: Während das RKI am 1. März lediglich 129 bestätigte Coronavirus-Infektionen in Deutschland meldete, waren es am 11. März bereits 1567.

Laut dem Bericht von China und der Weltgesundheitsorganisation WHO lag der sogenannte R0-Wert in Wuhan zunächst bei 2 bis 2,5. Die Zahl gibt an, wie viele andere Menschen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt. Bei den meisten Infizierten traten fünf bis sechs Tage nach der Ansteckung die ersten Symptome auf - vor allem Fieber und trockener Husten.

Effizientes Virus

Wenn es dem Virus gelingt, sich derart effizient auszubreiten, dann beschert dies der Krankheit ein exponentielles Wachstum. Menschen tun sich oft schwer damit, dieses zu verstehen, schrieb mein Kollege Christian Stöcker und schilderte ein Beispiel, das es verdeutlicht: Zwei Personen gehen je 30 Schritte. Person eins macht normale Schritte, jeder bringt sie einen Meter voran. Person zwei hat Supersiebenmeilenstiefel und macht exponentielle Schritte, jeder ist doppelt so lang wie der vorangegangene: 1,2,4,8 und so weiter. Wie weit ist sie gekommen? In 30 Schritten hat sie den Erdball fast 30 Mal umrundet, während Person eins gerade 30 Meter zurückgelegt hat.

Alle jetzt ergriffenen Maßnahmen dienen vor allem dazu - um bei dem Beispiel zu bleiben -, dem Virus die Supersiebenmeilenstiefel auszuziehen, damit es eben nicht in kürzester Zeit die Erde umrunden beziehungsweise einen Großteil der Menschen infizieren kann.

Eine Idee, wie schnell sich das Virus in einem Land ausbreiten kann, gibt die grafische Darstellung. Die zeigt, wie sich die Fallzahlen jeweils ab dem Tag mit mindestens 100 registrierten Fällen im jeweiligen Land binnen 20 Tagen entwickelt haben. (Achtung: Die Skala der Fälle ist logarithmisch, also nicht linear.)

Was China, Iran und Italien gemeinsam haben: In diesen Ländern zirkulierte das Virus zunächst in größerem Maßstab unerkannt, ehe der Ausbruch als solcher identifiziert wurde. Sehr wahrscheinlich hatten beziehungsweise haben diese Länder deshalb eine größere Dunkelziffer. Darauf deuten auch die vergleichsweise vielen Todesfälle in diesen Ländern. So melden am 10. März laut WHO Iran und Südkorea jeweils gut 7000 Coronavirus-Infektionen. In Iran sind jedoch weitaus mehr Menschen gestorben - 237 im Gegensatz zu 54 in Südkorea.

Damit standen beziehungsweise stehen diese Länder auch vor einer noch größeren Herausforderung beim Eindämmen des Virus. Denn je mehr Menschen bereits, zum Teil unerkannt, angesteckt sind, desto schwieriger wird es, die Ausbreitung zu verlangsamen oder ganz zu stoppen.

Stellschraube Zeit

Der Vergleich verschiedener Länder ist ohnehin schwierig, weil in ganz unterschiedlichem Maß auf Coronavirus-Infektionen getestet wird. So wird etwa Japan dafür kritisiert , zu wenige Menschen zu testen, sodass möglicherweise die Zahl der Infektionen dort aktuell unterschätzt wird.

Trotz all dieser Einschränkungen lässt sich mit Blick auf die Grafik trotzdem festhalten: Wir sollten alles daran setzen, dass die Kurve von Deutschland flacher verläuft als die von China, Iran oder Italien, wo ein Arzt den Corona-Ausbruch mit einem Tsunami vergleicht. Aktuell zählt jeder Tag.

Ob sich das Virus noch komplett eindämmen lässt oder ob es über kurz oder lang 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung infizieren wird, ist unklar. Die WHO nennt Eindämmung immer noch das oberste Ziel - und hält sie für erreichbar. Sie betont, wie wichtig es ist, jeden einzelnen Fall zu finden und die Betroffenen zu isolieren, während sie ansteckend sind.

Manche Experten halten es jedoch für wahrscheinlich, dass der Erreger inzwischen nicht mehr vollständig zu stoppen ist. Dann wäre die wichtige Stellschraube die Geschwindigkeit, mit der er sich verbreitet. Und eben darum muss das exponentielle Wachstum gedrosselt werden. Aus diesem Grund untersagen nun etwa Berlin und Hamburg alle Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern. Das RKI appelliert zusätzlich an jeden Einzelnen, sich im Zweifel auch privat einzuschränken, Kontakte zu reduzieren und besonders auf Hygiene zu achten.

Nur mit diesen und weiteren Maßnahmen kann es gelingen, dass nicht jeder Infizierte im Schnitt 2 bis 2,5 weitere ansteckt, sodass sich die Verbreitung des Virus verlangsamt. Auf Zeit zu spielen, ist so wichtig, weil die Zahl der Ärztinnen und Ärzte in Deutschland nicht unendlich ist, ebenso ist die Zahl der Klinikbetten begrenzt. Die Krankenhäuser in Deutschland verfügten im Jahr 2017 laut Statistischem Bundesamt  über rund 497.000 Betten, rund 28.000  davon in der intensivmedizinischen Versorgung. Kommt es zu einer schnellen Verbreitung des Virus, wäre sicher auch das Klinikpersonal in größerem Ausmaß betroffen, was Engpässe in der Betreuung von Kranken verschärfen würde - und nicht nur für an Covid-19 Erkrankte, sondern für sämtliche Patienten problematisch sein könnte.

Laut den Erfahrungen aus China verläuft die Coronavirus-Infektion in rund jedem fünften Fall schwer, sodass die Betroffenen ärztliche Hilfe brauchen. Bei sechs Prozent der Erkrankten war der Verlauf kritisch, sie hatten ein Atemversagen, entwickelten eine Sepsis oder gar ein Multiorganversagen und brauchten intensivmedizinische Behandlung. Patienten mit einem schweren Krankheitsverlauf benötigten etwa drei bis sechs Wochen, um wieder zu genesen.

Eltern und Großeltern vor einer Ansteckung schützen

Das Coronavirus verursacht bei Menschen über 50 Jahren eher eine schwere Krankheit, Menschen ab 80 sind besonders gefährdet. Ebenso ist dies bei Menschen mit Vorerkrankungen der Fall. Als Vorerkrankungen gelten unter anderem Bluthochdruck, Diabetes, Herzkreislauferkrankungen, chronische Atemwegserkrankungen und Krebs. Noch einige Zahlen: 45 Prozent der Menschen in Deutschland sind 50 Jahre alt oder älter. 6,5 Prozent sind mindestens 80 Jahre alt, das sind rund 5,4 Millionen Menschen.

Ein weiteres Ziel der jetzigen Maßnahmen ist es, gerade sie vor einer Ansteckung zu schützen. Der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité empfiehlt deshalb, Familien sollten ihre Kinder bis September, Oktober nicht mehr zu den Großeltern zur Betreuung geben. Weiterhin solle man versuchen, Einkäufe für die Großeltern oder Eltern zu erledigen, damit diese nicht mehr in den Supermarkt müssten. Arbeitgeber sollten, falls möglich, chronisch Kranken ermöglichen, von zu Hause aus zu arbeiten.

Was die oben abgebildete Kurve nicht mehr zeigt, ist die aktuelle Entwicklung in China: Dort gab es laut WHO am 10. März lediglich 20 neue Covid-Fälle. In Wuhan ist es also gelungen, das Virus einzudämmen. Allerdings erst, nachdem fast 81.000 Menschen erkrankt und 3140 gestorben sind - und mithilfe einer drastischen Quarantäne von Millionenstädten.