Es ist seltsam, in Zeiten von Corona über Empathie nachzudenken, denn meine Empathie gilt ja den Nächsten, und zu diesen Nächsten ist gerade – außer für diejenigen, deren helfende Hände unermüdlich im Einsatz sind – Abstand geboten. Als eine Ministerin des Ministeriums für Mitgefühl verstehe ich mich als Anwältin der Empathie. Ich weiß aber auch, dass Empathie nicht etwas per se etwas Positives bedeutet. Nicht einmal in einer Krise wie dieser. Es kommt auf die Haltung an, mit der sie zum Einsatz gelangt.

Daniela Dröscher, Jahrgang 1977, schreibt Prosa, Theatertexte und Essays. Thema ihrer Arbeiten ist das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit sowie die Überlagerungen von Klasse, Kultur und Geschlecht. Zuletzt erschien ihr autobiografischer Text "Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft" bei Hoffmann & Campe. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". © Stefka Ammon

Empathie lebt vom Zuhören

Will ich jemandem empathisch begegnen, ist das aktive, wohlwollende Zuhören maßgeblich. Es geht darum, zu bemerken, was mein Gegenüber gerade fühlt und mich selbst davon berühren zu lassen. Empathisches Zuhören ist nicht auf ein schnelles, umstandsloses Verständnis im Sinne einer Identifikation aus, gerade kein: "Ich weiß genau, was du fühlst." Denn das würde bedeuten, doch nur von mir und meinem eigenen Innenleben her zu denken und dem Gegenüber meine Projektionen überzustülpen. Die Grenze zwischen Ich und Du liegt in dem unterschiedlichen Erfahrungswissen. Zwar kann ich mich mit meinem Gegenüber empathisch verbinden – und zwar über viele Unterschiede und Ungleichheiten hinweg. Aber ich darf nicht versuchen, diese Differenzen zu nivellieren. Als weiße Frau kann ich beispielsweise empathisch zuhören, wenn eine nicht weiße Frau davon erzählt, wie es ist, in einer weißen Dominanzgesellschaft zu leben. Aber ich kann sie nicht umstandslos verstehen, eben weil ich selbst keine nicht weiße Frau bin. Empathie ist in diesem Sinne demütig vor den Erfahrungen anderer. Erst aus dieser Demut und der Anerkennung von Differenzen heraus können Komplizenschaften, nur so kann dauerhafte Solidarität entstehen. Wem man Gehör schenkt, ist zugleich immer eine Entscheidung. Die Empathie, die ich meine, hat ihre Grenzen, auch und insbesondere nach rechts.

Empathie lernen und fördern

Kann man Empathie lernen? Ja, kann man nicht nur, sondern muss man sogar. Die Fähigkeit zur Empathie gehört zum angeborenen Repertoire eines jeden Menschen, muss aber erlernt und befördert werden. Am Mienenspiel der Eltern, also der ersten Menschen, die ihn umsorgen und aufziehen, lernt ein Säugling, Emotionen zu lesen. Einer "hinreichend guten Mutter", wie der Bindungsforscher Donald Winnicott sie nennt – sowie einem "hinreichend guten Vater", möchte man ergänzen – gelingt es, die sich je nach Alter und Lebenslage immer wieder wandelnden Emotionen des heranwachsenden Kindes zu bestätigen, zu respektieren und hinreichend gut auf seine Bedürfnisse einzugehen. Das Kind lernt, zwischen sich selbst und anderen, Grenzen zu erkennen, diese zu respektieren und respektiert zu sehen.

Wer Empathie nicht auf diese frühkindliche Weise erlernen durfte, kann dies durchaus nachholen, nur ist der Weg mitunter mühevoll. Und auch, wer Empathie gelernt hat, muss sie ein Leben lang trainieren, schreibt der Autor Etgar Keret, denn sie ist leider der "am schlechtesten trainierte Muskel" der Menschheit. Zu diesem Training gehört, auf sich selbst zu achten. Um auf gute Weise empathisch zu sein, so lernte ich von einer Empathie-Trainerin, sollte ich zu 60 Prozent mit der Aufmerksamkeit bei mir sein, und zu 40 Prozent bei meinem Gegenüber. Nur dann kann ich klar für mich einstehen und auch den Anderen klar als Anderen sehen. Nach Richard Sennett wahrt Empathie immer einen gewissen Abstand. Sie erinnert "eher an eine Begegnung als an eine Umarmung".

Einer Studie zufolge setzt Empathie vier Dinge voraus: Sensibilität, Nonkonformität, emotionale Ausgeglichenheit und soziale Selbstsicherheit. Wie aber werden Menschen hinreichend sensibel, hinreichend nonkonform, hinreichend emotional ausgeglichen und hinreichend sozial selbstsicher? Wie und wo kommen wir in den Genuss, das Privileg, all das erlernen zu dürfen? Empathie ist seit einigen Jahren en vogue: in der Psychologie über die Kriminalistik, die Politik, die Medizin bis zum Management. Hier wird relevant, was ich eingangs sagte: Empathie ist nicht etwas per se Positives. Sie kann dazu dienen, uns resilient und funktionstüchtig zu machen in einem System, das auf Ausbeutung und Konkurrenz beruht und unablässig Konkurrenz zwischen uns Nächsten sät. Deshalb geht es darum, Strukturen zu schaffen, die diese guten Eigenschaften befördern. In manchen Ländern ist Empathie beispielsweise schon ein eigenes Schulfach. Doch machen diese Strukturänderungen nur Sinn, wenn wir langfristig auch ein anderes Wirtschaftssystem anstreben.

Empathie und Solidarität

Wer die Systemfrage stellt, bekommt häufig zur Antwort, es gäbe keine Alternative. Doch. Gibt es. Aber man muss diese Alternativen wollen und man muss bereit sein, gemeinsam um sie zu ringen. In Konzepten der Gemeinwohl-Ökonomie etwa spielt Empathie eine entscheidende Rolle. Christian Felber unterscheidet zwischen Ökonomik als einer Hausverwaltungskunst, die das Wohl aller im Blick hat, und Chrematistik als einer Kunst des Gelderwerbs oder der Bereicherung der eigenen Person oder Familie. Ähnlich fordert der psychoanalytisch geschulte Ökonom Martin Schürz Obergrenzen für den Verdienst, um die Gier, die mit Letzterem einhergeht, zu begrenzen. Ein Motor, der solche Forderungen plausibler machen könnte, ist vielleicht ausgerechnet die Mittelklasse, also eine Klasse, die bisher keine war. So viele Lohnabhängige wie schon lange nicht mehr bangen weltweit um ihre ökonomische Existenz. Und womöglich liegt darin eine Chance der Mittelklasse: in Solidarität mit den unteren Klassen zu agieren. Nicht in Abgrenzung zu ihr, aus Furcht vor dem sozialen Abstieg.