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Morawiecki und Orbán · Foto: Facebook

Von Ferenc Almássy *

Es ist offiziell: Am Montag, den 16. November legten Ungarn und Polen ihr Veto gegen den EU-Haushalt 2021-2027 und den Covid-Konjunkturplan ein. Für die Brüsseler Behörden bestand die Lösung darin, die europäischen Finanzmittel von der Frage der “Achtung der Rechtsstaatlichkeit” abhängig zu machen, um Ungarn und Polen, deren politische Positionierung seit 2015 den Westen irritiert, zum Einlenken zu bewegen. Aber es war eine vorschnell gedachte Lösung; die EU versinkt stattdessen noch tiefer in der Krise. Wie ist eine solche Situation angesichts des nahenden Budgettermins 2021 möglich geworden, und was können wir als Nächstes erwarten?

Zunächst einmal ist es wichtig, einen Punkt klarzustellen: Das Veto der beiden Mitgliedstaaten ist ein politisches und noch nicht juristisch verbindliches, d.h. es wurde von den Delegierten der beiden Länder nur angekündigt. Aber dies hat bereits ausgereicht, um die komplexe und zerbrechliche EU-Maschinerie zu stoppen. Viele sahen dieses Veto jedoch kommen, und das aus gutem Grund: Sowohl Ungarn als auch Polen warnen seit dem Sommer davor, dass sie dazu bereit sind, wenn es nicht zu einem Kompromiss über die Bedingungen für die Zuteilung europäischer Mittel kommt, und lehnen gemeinsam die politische Zweckentfremdung des gemeinsamen Haushalts ab. Eine erste Vereinbarung wurde in diesem Sommer getroffen, dann aber einseitig von den Brüsseler Behörden geändert. Insbesondere ist es die Frage der “Achtung der Rechtsstaatlichkeit”, die den Kern des Problems bildet. Für Brüssel muss die Zuteilung europäischer Finanzmittel mit der “Achtung der Rechtsstaatlichkeit” korreliert sein – ein Konzept, daS 2016 dem belgischen Liberalen Didier Reynders zugeschrieben und seither von Deutschland getragen wurde. Dies ist jedoch keine akzeptable Bedingung für Ungarn und Polen, die diese Forderung als Verstoß gegen den Vertrag von Lissabon ansehen. Aber was bedeutet das in der Praxis?

Budapest und Warschau werden seit Jahren beschuldigt, die Rechtsstaatlichkeit zu untergraben. Rauchig, vage und von liberalen Politikern zunehmend politisiert, hat der Rechtsstaatsbegriff so viele Definitionen oder besser gesagt Wahrnehmungen, wie es Eigeninteressen gibt. Michael Roth, Delegierter Minister für Europa im deutschen Auswärtigen Amt, hat angekündigt, dass er Anfang 2021 die Mitgliedstaaten einladen werde, gemeinsam zu definieren, was “Rechtsstaatlichkeit” ist, aber die Zeit drängt. Mal gleichbedeutend mit liberaler Demokratie und einer für die LGBT-Lobby günstigen und auf Minderheiten ausgerichteten Haltung, mal gleichbedeutend mit Volkssouveränität und Achtung des Buchstabens des Gesetzes, kann jede Diskussion zu diesem Thema nur zu Zwietracht führen, so ungenau ist der Ausdruck derzeit; daher auch die Zurückhaltung der beiden mitteleuropäischen Länder, sich einer solch flexiblen und undefinierbaren Bedingung zu unterwerfen – sie wollen nicht getäuscht werden, denn sie sind direkt betroffen. Die ungarische Justizministerin Judit Varga beschloss am 26. Oktober, ein Ausbildungs- und Studienprogramm zu Fragen der Rechtsstaatlichkeit auf V4-Ebene zu starten, doch bisher hat sich nur Polen diesem Projekt angeschlossen. Dies liegt genau an “der begrifflichen Verwirrung um die Frage der Rechtsstaatlichkeit”, schreibt Frau Varga. Wird dieses Programm dem zu erwarteten Kraftmessen gewachsen sein? Das ist zweifelhaft. Was können wir also für die Zukunft erwarten?

Das panikartige Covid-Management hat die Europäische Union in eine katastrophale Situation gebracht – zumindest aus der Sicht der Bevölkerung -, die noch lange nicht vorbei ist. In diesem Zusammenhang und in einer Zeit, in der die liberalen Protestkräfte in Polen und Ungarn, die immer illiberaler und trotz des Festhaltens von Budapest und Warschau an dem den europäischen Liberalen und anderen amerikanischen Demokraten so sehr am Herzen liegenden Covid-Narrativ immer aggressiver und feindseliger werden, wird deutlich, dass die ungarische und die polnische Regierung mit dem Rücken zur Wand stehen. Gefangen zwischen den Organen der Europäischen Union, die mit der Drohung finanzieller Erpressung drohen, einerseits und ihren Grundsätzen, ihrer demokratischen Legitimität und vor allem ihren Wählern andererseits, ist Herumtaktieren keine Option mehr. Für die EU ist dies eine dringende Angelegenheit. Vor allem die südeuropäischen Staaten haben es sehr eilig, dass der neue Haushalt verabschiedet wird, um den wirtschaftlichen und sozialen Schaden zu begrenzen, der durch die Pandemie-Maßnahmen besonders akut geworden ist. Der Kampf muss nun frontal geführt werden. Dessen ist man sich bewusst.

Doch während der Haushalt durch ein Veto blockiert werden kann, wird über die von der deutschen Ratspräsidentschaft erarbeitete Einigung über das Rechtsprinzip mit einer Zweidrittelmehrheit der Mitgliedstaaten abgestimmt, die Ungarn und Polen trotz slowenischer Unterstützung nicht blockieren können. Für Viktor Orbán hat all dies nichts mit einem Rechtsbegriff zu tun, sondern nur mit politischen Konzepten. Für ihn ist es eine Erpressung, die der Westen als Instrument der Einmischung nutzen will, um zum Beispiel der ungarischen Migrationspolitik entgegenzuwirken. Orbán im Originalton: “Sollte dieses Gesetz verabschiedet werden, … würden sie die Europäische Union in die zweite Sowjetunion verwandeln”. Worte, die im Mund dieses ehemaligen kommunistischen Dissidenten schwer von Bedeutung sind. Dies umso mehr, als das Tabu, die Europäische Union zu verlassen, bereits im vergangenen Jahr an den Ufern der Donau gefallen ist. Es ist allerdings bekannt, dass die Pro-Orbán-Presse angewiesen wurde, das Thema Huxit nicht zu diskutieren. Doch der Ton hat sich geändert.

Für den polnischen Justizminister Zbigniew Ziobro ist der Vorwand der Rechtsstaatlichkeit nur ein Mittel zur Zerschlagung der nationalen Souveränität. Eine rote Linie für die polnische Regierung. Für Ziobro ist dieses Problem “von grundlegender Bedeutung für die Zukunft des Landes”. Für Ministeroräsident Mateusz Morawiecki käme die Annahme dieser Kriterien für die Mittelzuweisung der Billigung einer Doppelmoral bei der Behandlung von Mitgliedsstaaten gleich. Die polnische Regierung, die nach jüngsten Einbußen bei Umfragen noch keinen gravierenden Popularitätsverlust erlitten hat, hat allen Grund, standhaft zu bleiben: 57% der Polen unterstützen die Regierung bei ihrem Veto, während nur 20% dagegen sind.

Währenddessen sagt Brüssel, dass es keinen Plan B gebe; man scheint damit kommunizieren zu wollen, dass der böse Geist der beiden Rebellenländer schuld an einer dauerhaften Pattsituation sei, aus der niemand als Sieger hervorgehen könne, obwohl dies vor allem ein beunruhigendes Eingeständnis der Verantwortungslosigkeit seitens des Gipfels der Union ist. Doch trotz dieser alarmierenden Nachrichten zeigen sich viele Führungskräfte wie Nadia Calviño, Wirtschaftsministerin des Königreichs Spanien, vor allem aber ehemalige Direktorin des europäischen Haushalts von 2014 bis 2018, gelassen und zuversichtlich, dass schnell eine Lösung gefunden wird. Im Moment sind noch keine Details bekannt, aber es ist erwähnenswert, dass das Europäische Parlament am Mittwoch die Worte von Petri Sarvamaa, dem Verhandlungsführer für Rechtsstaatlichkeit, bestätigt hat, der gesagt hatte, dass es ein abgeschlossenes Thema sei, die Zahlung von Geldern von der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit abhängig zu machen, und dass es nicht in Frage käme, darauf zurückzukommen. Im Klartext: Budapest und Warschau werden sich beugen müssen.

Der ungarische Politologe Botond Feledy schlägt ein juristisches Manöver vor, um das Stimulus-Budget aus der Runde 2021-2027 zu streichen und damit das ungarisch-polnische Veto zu umgehen. Budapest könnte dadurch 16 Milliarden Euro verlieren. Wenn das neue Budget für das nächste Budgetjahr nicht aufgestellt wird, gilt zudem die Regel, dass die Verteilung der Mittel entsprechend dem Budget des vorherigen Budgetjahrs fortgesetzt wird. Nach den Schätzungen Feledys würde dies für Ungarn einen jährlichen Verlust zwischen 2,5 und 3 Milliarden Euro bedeuten. Viktor Orbán seinerseits sagte am vergangenen Freitag, dass Ungarn bekommen werde, was ihm zustehe.

Quelle: Visegrád Post


*) Der Franko-Ungar Ferenc Almássy ist Gründer und Chefredakteur der Visegrád Post. Als freier Journalist mit den Schwerpunkten Mitteleuropa, Frankreich und Migrationsfragen ist er auch der Mitteleuropa-Korrespondent von TV Libertés (Frankreich) und publiziert in der ungarischen Wochenzeitung Magyar Demokrata.

 

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