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Thomas Cole, Der Weg des Imperiums · Bildquelle: Centro Machiavelli

Von Daniele Scalea
 

“L’autodistruzione dell’Occidente. Dall’umanesimo cristiano alla dittatura del relativismo” (“Die Selbstzerstörung des Westens. Vom christlichen Humanismus zur Diktatur des Relativismus”) ist das neueste Buch von Eugenio Capozzi, Professor für Zeitgeschichte an der Universität “Suor Orsola Benincasa” in Neapel und wissenschaftlicher Berater des Centro Studi Machiavelli. Mit diesem Buch bestätigt Capozzi seinen Status als einer der besten Historiker von Ideen, insbesondere derjenigen, die heute am meisten in Mode und einflussreich sind (sein “Politicamente corretto. Storia di un’ideologia” war ebenfalls denkwürdig). Er durchforstet die Geschichte des Westens aus einer moralischen und spirituellen Perspektive heraus auf der Suche nach seiner Stärke und den Gründen für seinen aktuellen Niedergang.

Nach Capozzis Meinung ist die historische Überlegenheit des Westens dem Humanismus zu verdanken, der in einem weiten Sinne zu verstehen ist als jene Auffassung vom Menschen (die aus der Verflechtung von griechisch-römischer Philosophie, christlicher Religion und keltisch-germanischem “Libertarismus” entstanden ist) als einem Wesen, das nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurde, im Zentrum eines rational geordneten Universums steht und frei über sein eigenes Schicksal bestimmen kann. Dieser westliche Humanismus, dem wir einen Großteil des Fortschritts und der Demokratie verdanken, hat in der Geschichte jedoch nicht nur Konkurrenz durch einen Anti-Humanismus, sondern auch durch einen noch heimtückischeren Über-Humanismus bekommen.

Der Antihumanismus ist zum Beispiel in Luther und seiner Sicht des Menschen als völlig abhängig von der göttlichen Gnade verkörpert; er umfasst aber auch die Hobbes’sche Theorie, die die Politik auf eine Delegation von Rechten und Macht vom Individuum an den Staat reduziert, um die bloße biologische Subsistenz zu erhalten. In der protestantischen negativen Anthropologie lauert der Keim der Vergöttlichung der Politik, die entweder dazu führen kann, absoluten Gehorsam gegenüber dem Souverän zu predigen (wie Luther es tut) oder eine separate Gemeinschaft zu schaffen, die den Einzelnen streng kontrolliert (wie Calvin es tut).

Der Übermenschentum hat seine Wurzeln, so Capozzi, im christlichen Gnostizismus, als Bestreben, den Menschen vom Ebenbild zum Gleichen Gottes zu erheben. Der Glaube an die Vernunft kann zu einem Fortschrittsglauben führen, der über die Grenzen der Natur hinausgeht. Die vom Calvinismus induzierte, aber auch teilweise von der Gegenreformation rezipierte perfektionistische Spannung im gesellschaftlichen Leben schuf jene kathartische Erwartung, die in die Revolutionen des 18. Jahrhunderts und seither in die ständige Erwartung der westlichen Intelligenzia auf eine abrupte Palingenese überschwappen sollte.

In der Zeit der modernen Revolutionen ist die Dichotomie zwischen Humanismus und Anti-Humanismus bzw. Super-Humanismus immer noch zu finden. Die amerikanische Revolution wies dem Staat die Aufgabe zu, die individuelle Privatsphäre zu schützen; die französische Revolution hingegen wies dem Staat die Aufgabe zu, subjektive Rechte und Bestrebungen zu verwirklichen. Eine staatszentrierte Vision, die zu Eugenik und der heutigen Biopolitik führt, vereint durch die Idee, dass die Regierung die psycho-physische Gesundheit der Gesellschaft verbessern sollte. Es ist außerdem typisch für die gnostisch-superhumanistische Vision, erklärt Capozzi, die Gesellschaft drastisch in eine erleuchtete Elite von Hypermenschen und eine blinde Masse zu unterteilen, die der ersteren treu folgen muss.

Zu den interessantesten Seiten des Buches gehören diejenigen, die die Entstehung und Entwicklung jenes Gefühls des Selbsthasses, der Selbstauflösung des Westens, schildern, das dem Buch seinen Titel gibt. Die radikale Selbstkritik des Westens – in Capozzis Rekonstruktion – hat sich seit den 1930er Jahren ausgebreitet, ermöglicht durch die Korrosion des Humanismus im vorigen Jahrhundert. Im neuen relativistischen Geist wird das Andere in Opposition zu den traditionellen Modellen von Vernunft und Ethik mythologisiert. Der Übergang des Antiwestlichen vom intellektuellen Zirkel zur Massenkultur vollzog sich hingegen in der Generation der Babyboomer: Aufgewachsen im Wohlstand, aber auch in einem Wertevakuum, entwickelten sie ein latentes Schuldgefühl, das sie für die neue Ideologie prädisponierte.

Mit ’68 übernahm die neue Idee, sich von allen Hinterlassenschaften der Vergangenheit zu befreien, um ein völlig freies, unschuldiges und erfülltes Leben zu genießen. Daher der kulturelle Krieg gegen die Familie: Beziehungen sollen nur dem subjektiven Vergnügen dienen, ohne jegliche Verantwortung für andere Individuen. Das Begehren wird zum Leitkriterium des relativistischen Progressivismus, der jedoch – nachdem er den Humanismus und seine universelle Vision des Menschen hinter sich gelassen hat – das Individuum nur insofern als Rechtssubjekt anzuerkennen beginnt, als es mit einer Gruppe oder einem Stamm identifiziert wird. Rechte werden, in der neuen Sprache, alles und nur die Bestrebungen von Gruppen, die als in Kredit mit dem Rest der Gesellschaft dargestellt werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Capozzi ein weiteres unverzichtbares Buch zum Verständnis unserer Zeit vorgelegt hat. Wir müssen in der Tat lernen, genau die Makro-Dynamiken in Aktion zu erkennen, die langfristigen; und mit ihnen den Feind, dem es entgegenzutreten gilt, seine Ambitionen und Strategien. Ansonsten ist das Schicksal das des Boxers, der mit verbundenen Augen gegen einen Gegner kämpft, dessen Augen nicht bedeckt sind. Ein leicht vorhersehbares Schicksal.

Daniele Scalea
Gründer und Vorsirtzender des Centro Studi Machiavelli (Rom), diplomierter Geschichtswissenschafter (Universität Mailand) und Doktor der Politikwissenschaften (Universität Sapienza). Er lehrt “Geschichte und Doktrin des Dschihadismus” und “Geopolitik des Nahen Ostens” an der Universität Cusano. Von 2018 bis 2019 war er Sonderberater für Immigration und Terrorismus des Unterstaatssekretärs für Auswärtige Angelegenheiten Guglielmo Picchi. Sein neuestes Buch (geschrieben mit Stefano Graziosi) ist “Trump against all. Amerika (und der Westen) am Scheideweg”.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei CENTRO MACHIAVELLI, unserem Partner in der EUROPÄISCHEN MEDIENKOOPERATION.


Ein Gedanke zu „Die Selbstzerstörung des Westens“
  1. Das Christentum hat Europa zur Blüte gebracht, die großteils antichristlichen Kirche heute und alle Ideologien führen Europa in den Abgrund.

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