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Türkei: Islamische Imam-Hatip-Schulen werden immer unbeliebter

Imam-Hatip-Schulen waren ursprünglich zur Ausbildung islamischer Prediger gedacht. (Darwinek/CC BY-SA 3.0)
Imam-Hatip-Schulen waren ursprünglich zur Ausbildung islamischer Prediger gedacht. (Darwinek/CC BY-SA 3.0)

Die AKP-Regierung zwingt immer mehr widerwillige Schüler in islamische Schulen, die eigentlich nur der Predigerausbildung dienen sollten.

Zu den Lieblingsprojekten des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan gehören die sogenannten Imam-Hatip-Schulen. Seit je wird in der Türkei aus ihnen ein Politikum gemacht. Ob es sie als eine „alternative“ islamische Schulform überhaupt geben soll oder nicht, wurde lange Zeit kontrovers diskutiert, bis sich die AKP endgültig durchsetzen konnte.

Erdoğan nutzte diese Kontroverse wie selbstverständlich zur Spaltung der Gesellschaft und zur Mobilisierung seiner Wähler. Bereits in den 1990er Jahren, als er damals noch Oberbürgermeister Istanbuls war, verkündete er, dass er eines Tages alle Schulen in der Türkei zu Imam-Hatip-Schulen umwandeln werde. Dabei handelt es sich um Schulen, die einst dazu gegründet wurden, um Imame auszubilden.

Doch in der AKP-Ära genießen sie insbesondere in islamischen wie konservativen Kreisen große Achtung, schließlich war der türkische Präsident selbst in den 1960er Jahren ein Absolvent eben jener Schulform. Folglich unternahm die türkische Regierung in den vergangenen Jahren immense Anstrengungen, um diese Schulen, die einst zur Ausbildung von Koranlehrern und Predigern gegründet wurden, zu Regelschulen umzufunktionieren. Seit ihrem Regierungsantritt im November 2002 eröffnete die AKP-Regierung bisher rund 4000 solcher Schulen.

Unbeliebte Schulform

Doch wirkliche Resonanz finden diese Schulen unter den türkischen Schülern nicht. Das musste jüngst auch das türkische Bildungsministerium zugeben, und teilte das Ergebnis einer aktuellen Erhebung mit. Danach präferierten lediglich 11,1 Prozent der befragten Schülerschaft überhaupt den Besuch solcher Imam-Hatip-Schulen.

Dennoch sind diese Schulen nahezu vollständig ausgelastet, wie der türkische Bildungsminister Ziya Selçuk stolz auf Twitter mitteilt. Das hat mit dem türkischen Bildungssystem selbst zu tun. In den vergangenen Jahren sind die Wahlmöglichkeiten für Schüler immer öfter starken Einschränkungen unterworfen, und viele Regelschulen werden allzu gern – wie in den vergangenen Jahren häufig geschehen – zum Schuljahresbeginn zu Imam-Hatip-Schulen umgewandelt. Rund 700 Mittelstufen traf es seit 2012.

Viele Schüler klagen über den Umstand, dass sie ohne ihre Zustimmung in solchen Schulen untergebracht werden, obwohl sie diese Form der Bildung gar nicht präferieren würden. Viele Schüler der Imam-Hatip-Schulen ziehen es vor, im Übergang von der Mittelschule auf die Oberstufe in andere Gymnasialformen wie die naturwissenschaftlichen Gymnasien zu wechseln.

Islamisierung des Bildungssystems

Das türkische Schulsystem ist seit der umstrittenen Schulreform 2012, mit der die Imam-Hatip-Mittelschulen neben den bereits bestehenden Imam-Hatip-Gymnasien etabliert wurden, ein sogenanntes 4+4+4-System, das heißt, die Schüler besuchen jeweils vier Schuljahre lang eine Grundschule, dann eine Mittelschule und schließlich ein Gymnasium, das zur Hochschulreife führt.

Unter Recep Tayyip Erdoğan wurden die Berufsschulen für Prediger stark aufgewertet. 2002 zählten die Imam-Hatip-Schulen etwa 70.000 Schüler; mittlerweile sind über 700.000 Schüler allein an Mittelschulen und knapp 500.000 an Gymnasien.

An diesen Schulen wird, abweichend von staatlichen Schulen, verstärkt islamische Lehre unterrichtet und der Lehrplan zunehmend islamisiert. Koranunterricht ist das wichtigste Schulfach, statt Englisch oder Französisch steht Arabisch auf dem Stundenplan, es gibt sogar das Schulfach „Das Leben des Propheten Mohammed“. Naturwissenschaftliche Fächer werden dagegen an den Rand gedrängt. Die Folge ist, dass lediglich 14 Prozent der Absolventen dieser Schulen die zentralen Hochschulzugangsprüfungen bestehen.

Bastion der Islamisten

Die Idee zur Gründung solcher Schulen geht in die Geburtsjahre der Republik zurück. Als das Schulsystem in jenen frühen 1920er Jahren grundlegend modernisiert wurde, sollten durch das Gesetz über die Vereinheitlichung des Unterrichts auch Schulen zur Ausbildung von Religionsbeamten geschaffen werden. Doch mangels Nachfrage wurden diese Schulen bereits 1930 geschlossen, und so oblag die Ausbildung von Imamen bis 1948 allein der Verantwortung des Diyanet, des Präsidiums für Religionsangelegenheiten, das ebenso von den Kemalisten gegründet wurde.

1951 führte der erste islamistische Ministerpräsident der Türkei, Adnan Menderes, der die ersten freien Wahlen 1950 haushoch gewonnen hatte, die Predigerschulen wieder ein. Er kam der Forderung der Frommen nach und hielt sein Wahlversprechen, das eine grundlegende Reislamisierung des Alltags vorsah. Die Imam-Hatip-Schulen sollten die Grundlage dafür bilden und durch die Erziehung einer Generation, die fromm und loyal ist, die Fundamente für die kommenden Jahrzehnte schaffen, um islamische Tugenden im Alltag wieder stärker zur Geltung zu bringen. 

Diese Schulen sollten schließlich zur Bastion einer islamischen Jugend werden, die sich in den Grundlagen des Islams auskennt, und weiß, wie man sich islamisch korrekt im Alltagsleben benimmt. Dies entsprach der Islamisierungspolitik der Menderes-Regierung – und rasch stiegen auch die Schülerzahlen, bis 1960 das türkische Militär mit einem Putsch intervenierte und die Imam-Hatip-Schulen wieder an den Rand des Schulsystems drängte.

Reislamisierung durch die Kemalisten

Die Predigerschulen blieben politisch umstritten. Ab den 1960er Jahren wuchs parallel zur Entstehung der Milli-Görüs-Bewegung auch allmählich eine Bewegung, die die Imam-Hatip-Schulen stärker im Schulsystem verankert sehen wollte. Nach und nach gaben sodann kemalistische Regierungen den islamistischen Forderungen nach, und bereits im Mai 1972 wurden die Imam-Hatip-Schulen zu offiziellen Berufsfachschulen erklärt.

Das hatte eine gewisse Privilegierung zur Folge, denn durch diesen Status konnten die Absolventen dieser Schulen auch erstmals das Recht zu studieren erlangen, wenngleich bloß an den theologischen Fakultäten. 1975 änderte die Regierung –  eine Koalition der kemalistischen CHP unter Bülent Ecevit und der islamistischen MSP unter Necmettin Erbakan – das Hochschulrecht, was zur Folge hatte, dass die Absolventen der Imam-Hatip-Schulen an allen Fachbereichen der staatlichen Universitäten studieren konnten, denn die Predigergymnasien wurden mit den staatlichen Gymnasien gleichgestellt.

Immer wieder endzündete sich in den folgenden Jahrzehnten die Diskussion um die Stellung dieser Schulen im Schulsystem, am Hochschulzugangsrecht und an der Anzahl der Imam-Hatip-Schulen und ihrer Schülerschaft. Für die säkulare Bildungsschicht waren sie stets ein Hort der Reaktion, der staatsoffizielle Kemalismus förderte sie dennoch.

Es waren schließlich laizistisch-kemalistisch orientierte Regierungen, die maßgeblich die Etablierung dieser Schulen ermöglichten. Abschaffen wollte sie niemand. Die meisten Imam-Hatip-Schulen wurden unter dem mehrfach regierenden Ministerpräsidenten Süleyman Demirel eröffnet. In seinen Amtszeiten wurden 327 neue Predigergymnasien gebaut. Tansu Ciller, Ministerpräsidentin von 1993 bis 1995 brachte es auf 167 neue Imam-Hatip-Schulen.

Als noch geputscht wurde

Islamist Necmettin Erbakan, der ihr 1996 folgte, kam auf 97 Schuleröffnungen. Bis zur Erklärung des Nationalen Sicherheitsrats vom 28. Februar 1997, die zum Sturz der Regierung Erbakans führte, änderte sich am Status der Predigergymnasien nichts. Dennoch stieg ihre Gesamtzahl auf etwa 600 Schulen mit über 500.000 Schülern. Das entsprach einem Anteil von etwa 10 Prozent aller Schüler.

Die Generäle forderten deshalb am 28. Februar 1997 die Regierung auf, eine achtjährige Schulpflicht einzuführen und die Imam-Hatip-Mittelschulen zu schließen. Erbakan weigerte sich und trat auf Druck des Militärs zurück.

Unter der AKP-Regierung begannen Predigerschulen so richtig zu florieren. Besuchten im Schuljahr 2013/14 noch knapp 600.000 Schüler Imam-Hatip-Schulen, so hat sich ihre Zahl im Schuljahr 2018/2019 auf 1.2 Millionen verdoppelt.

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