Jude  vor der Klagemauer in Jerusalem
ASSOCIATED PRESS
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Gastbeitrag

Menstruation als antisemitisches Motiv

Jüdische Männer menstruieren: Das behauptet ein Kanon von christlichen Quellen ab dem 12. Jahrhundert. Die Blutung wird darin als Sinnbild für die religiöse und soziale Minderwertigkeit der Juden verstanden. In einem Gastbeitrag zeichnet die Judaistin Kerstin Mayerhofer die Geschichte dieses weitgehend unbekannten antisemitischen Motivs nach.

Eine Vielzahl christlicher polemischer Quellen vom 12. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts behauptet, dass jüdische Männer, ähnlich wie Frauen, menstruieren. Frühe ethnographische Texte und Predigtsammlungen, medizinische Traktate und naturphilosophische Abhandlungen schreiben Juden ein abnormes Blutungsleiden zu, das mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederkehrt. Es befalle alle männlichen Juden, unabhängig von ihrem Alter oder Stand, so die Quellenlage.

Portätfoto der Judaistin Kerstin Mayerhofer (IFK)
privat

Über die Autorin

Kerstin Mayerhofer ist Judaistin und derzeit Junior Fellow am IFK (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften).

Vortrag

Kerstin Mayerhofer hält am 23. März, 18:15 Uhr, am IFK einen Vortrag zur Geschichte der jüdischen „männlichen Menstruation“, der via Zoom stattfindet – der ursprüngliche Termin 12. Jänner wurde verschoben.

Dabei trete es in unterschiedlichen Formen auf, von einer einmaligen Blutung mit jährlicher Wiederkehr am Karfreitag über blutende Hämorrhoiden bis hin zu Blutungen, die, genau wie die Menstruation in der klassischen Medizintheorie, dem Lauf des Mondes folgen. Diese Blutungen würden die Juden schwach machen, blass und kränklich und sie zurückwerfen auf eine beschränkte Handlungs- und Wirkungssphäre in ihren eigenen vier Wänden, denn: „befleckt vom Blute“ könnten sie ihre Häuser nicht verlassen ohne in Schmach und Schande zu versinken und Verfolgungen ausgesetzt zu sein.

Der Jude als der „Andere“

Alle diese Bilder durchziehen die unterschiedlichen Quelltexte und transportieren eine ebenso komplexe wie klare christliche Ideologie: Der Jude als archetypischer „Anderer“, eine Antipode zum rechtgläubigen und rechtschaffenden Christen, dessen Blut rein und dessen Leib unversehrt ist. Diese „Andersartigkeit“ wird zunächst nur religiös konstruiert — die Juden hätten die Botschaft Jesu Christi missverstanden und ihre Unterwerfung in der christlichen Mehrheitsgesellschaft damit selbst bedingt.

Mit dem ausgehenden Frühmittelalter wird die religiöse Differenz zunehmend mit moralischen und sozialen Implikationen versehen. Der Jude unterscheidet sich vom Christen nun nicht mehr nur durch seinen Glauben, sondern auch durch sein soziales Verhalten, durch seinen Charakter und durch seine äußere Erscheinung. In Anlehnung an die Lehren der Kirchenväter über die geistige und physische Schwäche der Frau, über ihre Irrationalität und Verderbtheit, entsteht eine spezielle Vorstellung von jüdischer Körperlichkeit. Das Bild des jüdischen Körpers wird, genauso wie das des weiblichen Körpers, in Bezug auf Geschlecht und Sexualität im Speziellen, aber auch in Bezug auf Physiologie und Gesundheit im Allgemeinen, bewusst verzerrt.

Zusammenspiel der Ideologien

An der Figur des „menstruierenden Juden“ wird deutlich, wie unterschiedliche soziale Kategorien bereits in frühen Formen von Diskriminierung intersektionell zusammenspielen, miteinander interagieren und sich nicht voneinander trennen lassen. Die enge Beziehung von Religion und Geschlecht, von Antisemitismus und Sexismus überspannt die Jahrhunderte: Frauen und Juden wurden mit den gleichen negativen Stereotypen bedacht, ihr „Anderssein“ als universell und unveränderlich verstanden und gleichermaßen mit angeblichen Wahrheiten über ihre „Natur“ versehen.

Das Zusammenspiel besonders von Geschlecht, Körper und Religion in diesem Zusammenhang war produktiv für Forderungen nach soziopolitischer und sozioökonomischer Marginalisierung der „Anderen“, egal ob Frauen oder Juden — damals wie heute.

Menstruation als Strafe für Sündhaftigkeit

Dass diese Ideologien ihren Niederschlag im Symbol der Menstruation finden, verwundert wenig. Seit jeher war in der christlichen Glaubensvorstellung dieser Körpervorgang verknüpft mit Schuld und Sünde. Die christliche Exegese der Genesis-Erzählung verstand die Menstruation als eine der Strafen für das Vergehen der ersten Frau, Eva, im Garten Eden. Eva hatte sich gegen Gott versündigt, indem sie vom verbotenen Baum nahm und wurde mit dem Mühsal von Schwangerschaft, Geburt und Menstruation bestraft.

Ähnlich erging es den Juden: sie hatten sich gegen Jesus Christus versündigt, in der Weigerung ihn als Messias anzuerkennen und in der Forderung nach seiner Kreuzigung. Die textliche Basis für die jüdische „männliche Menstruation“ bildet dabei der sogenannte „Blutruf“ aus dem Matthäus-Evangelium. Mit dem Ausruf „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ (Mt. 27, 25) hätten die Juden nicht nur die Schuld am Tod Christi einstimmig und freiwillig auf sich genommen. Sie hätten damit auch ihr eigenes Schicksal, ebenso wie das ihrer Nachkommen, vorherbestimmt — zu einem Leben in Schuld, bestraft durch das Bluten, das sie als moralisch „verderbt“ kennzeichnete, und folglich zur gesellschaftlichen Ausgrenzung verdammt.

Die Macht der Körperbilder

Die Vorstellung vom „menstruierenden“ Juden ist Teil des Kanons antisemitischer Körperstereotype, zu denen auch Motive und Bilder wie jenes der jüdischen Nase oder der jüdischen Gier nach Sex gehören. Körperbilder wie diese haben ideologische Kraft, besonders dann, wenn sie eine Projektionsfläche für Angstvorstellungen bilden. Die Menstruation ist einer jener Körpervorgänge, die kulturgeschichtlich am häufigsten und am stärksten tabuisiert wurden. Schon in der Naturgeschichte des Plinius d. Ä. aus dem ersten Jahrhundert wurde die Menstruation mit allerlei Mythen behaftet, denen zufolge sie etwa jungen Wein verderbe, bei trächtigen Tieren zum Abgang der Schwangerschaft führe oder Spiegel trüb werden lasse.

Weibliche Körper, menstruierende Körper, jüdische Körper — sie alle gefährden die gesellschaftliche Ordnung und sind Antitypen zu einem hegemonialen Männlichkeitsmodell, das ihre Unsichtbarmachung und Stigmatisierung fordert. Antisemitismus und Rassismus nehmen heute wieder zu, Sexismus und institutionelle Ausgrenzung generell bestehen weiterhin fort. Ein Rückblick auf vormoderne Konstruktionen von Identität und Diversität ist daher nicht nur wichtig für das Verständnis moderner Diskriminierungsprozesse. Eine Neukontextualisierung der dabei tradierten Körperbilder und ihrer ideologischen Prozesse kann auch zu ihrer Veränderung führen.